In unserer Mitte wimmelt es von Bären

Wo ist die Aufsicht? Ein Spaziergang durch den Freizeitpark

Im Zentrum von Krisendeutschland steht eine Drehorgel: Luft, Luft, Luft, düdelt die, der Orgelmann grinst dauerhaft dazu, ebenso sein Halloweenkürbis, auch viele Jungschweden, Mittelholländer und Altdeutsche trotzen lachend dem Elend - das Kanzleramt ist nicht weit, und man will ja niemandem die Laune verderben. Aufrecht hält ein jeansbejackter Touri-Gruppenführer immerhin schwarzweiße Bilder in die sonnige Herbstluft hinein, da ist Nachkriegsberlin drauf, die Geführten staunen: Alles kaputt seinerzeit, und der schöne Tiergarten ein rechter Acker (wie wir Fußballer zu sagen pflegen).

Das macht schweigen und nicken, auch verfolgen wir mit Sorge die flaue Konjunktur eines Harlekins, der verknotbare Luftballons verkaufen möchte und konsumscheuen Kindern hilflos hinterherwinkt, sehen mit leichter Verzagnis der Trabi-Safari hinterher, die Deutschlands witzigste Stadtrundfahrt sein soll, sehen den Touristen zu, die einmal herumkurven um den "Fußball Globus", um dann schnell zu verschwinden und sich im Tiergarten ein mitgebrachtes Tütensüppchen zu kochen: Deutschland ächzt, soviel ist klar. Zuletzt sind auch noch Frauen Weltmeister geworden. Als Riesenkrisensymbol hat man also einen großen Ball vors Brandenburger Tor gelegt, in das er über lange Wochen nicht hineinfinden will. Antriebslos liegt er herum und ist nicht nur Fußball, sondern auch Erdenrund. Bei Hawaii quillt eine glänzende Abwärtsspirale heraus, eine Rutsche in der Not, nicht einmal die dürfen wir nutzen. "Liebe Gäste", fertigt ein schnöder Zettel uns ab, "die Rutsche am Fussball Globus ist ein Notausgang und wird deshalb nur in Notfälle in Betrieb genommen." Als ob es uns immer noch nicht schlecht genug ginge!

Rein gehen wir trotzdem in den Ball, die Krise der Unterhaltung inspizieren, für die der Name André Heller bürgt. Lärm, Gestampf, Gejohl und Gepfeif umgeben uns, als wir die Stahltreppe emporklimmen, hinauf zur Unterhaltungskuppel, deren Boden glaubwürdig schwankt. Hier ist alles noch viel abwegiger, als wir es uns hätten ausmalen wollen. In der Kuppel behaupten sich verschiedene Unterhaltungspunkte gegeneinander und den Krach. Beispiel "WM-Qualifikation": Exotische Ländernamen drehen sich im Kreis: Brunei Darussalam, Kirgisistan, Myanmar, Mongolei. Ist es schon soweit, daß wir uns mit derlei Gegnern befassen müssen? Beispiel "Fussball- meine Liebe": Jeder darf mal eine Tastatur beklickern, das Geklickerte wird dann zur allgemeinen Erbauung an die Wand projiziert: "Ich liebe Fussball, weil ich Männer in kurzen Hosen klasse finde." - "Ich liebe Fussball, wei ich bin dänish." - "JUHU IHR HIER IM FUSSBALL GLOBUS ICH KOMME VON DER INSEL RÜGEN."

Polyglott gibt sich auch der Unterhaltungspunkt "Fankultur", wo sich, tja, Ländernamen drehen. Wer einen anklickt, erhält wertvolle Informationen über die jeweiligen endemischen Riten: In Nigeria beispielsweise ziehen die Leute alle grün-weiße Sachen an, tanzen und singen und bemalen sogar die Gesichter grünweiß. Die Südkoreaner aber ziehen sich ganz in Rot an, tanzen und singen und malen ihre Gesichter rot an. Wohingegen die Iren sich ganz in Grünweiß kleiden, tanzen und singen, die Gesichter grünweiß anmalen, und - jetzt kommt's - manchmal auch Plastiktüten hochhalten und lachend in Kameras winken. Der Fußball - ein übersehener Kulturimperialist? Sollten wir nicht, um unser Land zu stärken, wieder mehr die Marschmusik pflegen, das bedenkliche grüne Auswärtstrikot ersetzen?

Werden wir der allgemeinen Verwässerung nicht Herr, so wird unser männliches Kräftemessen zu einem Videospiel verkommen, bei dem seltsame, blubberige Wesen sich auf Ersatzbänken räkeln, weil sie angeblich gefoult worden sind, und uns ihre Rücken oder Pos entgegenstrecken, damit wir sie da streicheln: Im Hellerball ist diese Schreckensvision schon zu erleben, und niemand schützt unsere Jugend davor. Einstweilen bleibt nur die Flucht aus diesem Strafraum, hinaus in die kostenneutrale Sonne, an Fernsehteams vorbei, denen man den indirekten Freistoß er- klären soll, worauf sie mit leichtem Vorwurf sagen: "Oh Mann, Sie können's ja wirklich! Ich suche doch jemanden, der es NICHT kann!", vorbei an silber gekleideten Stillstandspantomimen über das Pflaster, aus dem die Verzweiflungsschreie der U-Bahn dringen, hin zu den Bären.

Die Kunst ist nämlich auch in der Krise. Das geht schon damit los, daß sie jetzt neuerdings vom Bundesaußenminister ausgedeutet wird. Direkt am Brandenburger Tor stehen 123 buntbemalte Plastikbären, knapp bärengroß, angemalt von Künstlern aus 123 Ländern, die sich sonst dem Lackieren von Souvenirtellern widmen. Die Bären bilden einen großen, alphabetisch geordneten Zirkel, sie recken ihre Tatzen gen Himmel. Und Jockel klärt im Grußwort auf: "Ich freue mich über die schöne Idee, die überall in Berlin präsenten Bären in das Werben um Toleranz und Verständigung einzubeziehen. Jedes Land hat seine eigene Kultur, Geschichte und Eigenarten - jeder Bär hat seinen Künstler, seinen Stil, seinen eigenen Ausdruck. Nimmt man sie alle in ihrem Kreis zusammen, sind sie ein eindrucksvolles Kunstwerk und zugleich ein Symbol für den kulturellen Reichtum unserer einen Welt, die durch friedliches Zusammenleben sehr viel mehr sein kann als nur die Summe ihrer Teile." Soweit der Bundesfriedensminister. Daß die Bären der Hit sind, kann auch sein Gesumse nicht verhindern, Berlin klaubt seine Kinder zusammen, strömt herbei und bringt das umliegende Kerneuropa gleich mit.

Dänisch, holländisch, französisch klingt's im weiten Rund, im leichten Vorüberschreiten läßt man die Kunst konfliktfrei auf sich wirken: Bären mit Herzen auf der Brust. Bären mit Beckham auf dem Bauch. Bären mit Verhaltenstips auf dem gesamten Körper: daß man zum Beispiel jeden Menschen so behandeln solle, wie man auch selbst behandelt werden wolle, sowie überhaupt Ehrfurcht vor dem Leben haben möge. Bären im friedlichen Wettstreit der Kulturen: Tadschikische Bären tragen bunte Bademäntel, so erfahren wir hier, und Stiefel im Kosakenstil, in Turkmenistan sind die Bademäntel eher im Teppichmuster gehalten, der usbekische Bär wartet mit einem goldenen Overall auf. In Afrika hat der Ur-Berliner Bär die Kunst beflügelt, mit eigenen Tierarten zu prunken: Löwen, Giraffen, Elefanten traben, Wasserbüffel stieren, auch Töpfe und/oder Perkussionsinstrumente sind zu sehen sowie herzerwärmende Slogans: "One Zambia - One Nation", meint der sambische Bär, sein Kollege kurz daneben: "Wonderful Rwanda". Lesotho und Guinea setzen auf prachtvolle Natur: Berge, Weiten, weidende Pferde, ein lachender Mann unter einem lachenden Strohhut. Beziehungsweise: ein strohgedecktes Dorf an einem schneckenfreien Fluß, darinnen eine barbusige Frau.

Das Publikum zeigt sich sehr einverstanden mit der Kunst. Aufmerksam flaniert es vorbei, tauscht sich aus: "Sieht doch schön aus." - "Niederlande - guck mal, wo der das Herz hat!" - "Mama, Papa, das ist Peru! Peru!" - "Ja, das Herz von Nicaragua ist dem holländischen Bär in die Hose gerutscht." - "Ist das Irak, ja? Sieht mehr wie 1001 Nacht aus." - "Lies mal die Schilder. Immer interessant zu sehen, wer das gesponsert hat." - "Hoho, die Niederlande!" - "Der deutsche, wo war'n der deutsche?" Am Ausgang entläßt uns ein silberner Bär mit einem täuschend echten Einsteinporträt und der Erhellung: "Peace cannot be kept by force. It can only be achieved by understanding." Das kommt gut an. Ein verspiegelter Jugendlicher will sich mit dem Einsteinbären knipsen lassen, legt ihm den Arm um, würgt ihn. Und los! Wir überqueren die Behrenstraße. Da kommt schon das nächste Mahnmal.

Hier ist die Krise förmlich greifbar: die Krise des Gedenkens. Ließ sich der Ring der Bären- und Völkerfreundschaft in recht kurzer Zeit realisieren, so dümpelt der gegenüberliegende, thematisch sinnvoll ergänzende Holocaust-Gedächtnisparcours vor sich hin: Noch ist nicht viel mehr als eine weite Sandfläche zu sehen, abgesteckte Quadrate, betonbeschwerte Kräne, Arbeitercontainer, blaue Röhren, die aus dem Boden lugen. Erst ein kleines graues Häufchen schräger Stelen findet sich auf weiter Flur und erinnert schon mal an ein paar Tausend der ermordeten Juden Europas. Bis auf weiteres ist man für Historienthrill also auf den authentisch ungeheizten "Holocaust-Turm" im Jüdischen Museum in Kreuzberg angewiesen, den das Museum in folgendem O-Ton beschreibt: "Es ist ein Gedenkraum, der mit seiner Nacktheit und Leere an die vielen jüdischen Opfer des Massenmordes erinnert."

Das Wetter war hier in Berlin noch nie krisenfest. Der Wind weht, der Niesel nieselt, wir wollen dem Elend entkommen in einem bunten Luftballon, der die Erlebnisachse beschließt: Ein paar Meter vom Mahnmal-Ensemble nämlich lädt Europas größter Fesselballon ein, uns 150 Meter hoch und 15 Minuten lang in die Luft- luftluft zu entführen. Vorher aber kurbeln wir noch die einsame Imbißbude an, die auf offener Strecke den Herbstwinden trotzt. "Was'n Wetter", sagt der Imbißbudenmann und: "Die Wurst ist zu klein fürs Brötchen! Aber das macht nichts - am Brot kann man sich auch satt essen!" Naja, sagen wir, nehmen Senf dazu und beißen erst mal voll an der Bratwurst vorbei, halb hungrig schleppen wir uns weiter, hin zum menschenleeren Kassenstand: Heute kein Flugbetrieb. Träge liegt der Hi-Flyer am Boden vertäut, eine riesige, angeschmutzte Sat.1-Regenbogen-Kugel, die heute Flugangst bekommen hat.

Wegen des Windes. Wir tippeln auf den Füßen, es weht doof und pieselt, wir wissen nicht recht und kaufen uns ein Übersprungseis. Wir wärmen es in der Jackentasche vor, sehen den Menschen zu, die vom Potsdamer Platz Richtung Bärenmal pilgern, sehen einen leeren weißen Nostalgiebus an der Ampel stehen, wo er vor einer halben Stunde auch schon mal leer und nostalgisch herumstand. Wir packen das Eis aus, immer noch viel zu hart, aus dem Spreeradio dudelt Gruselpopper Phil Collins: 0, dudelt er, think twice, dudel, it's just another day for you and me in paradise. Da wissen wir: Wir sind jetzt angekommen im tumb trommelnden Herzen der Krise.